Wer kennt es nicht: Man ist im Sportklettergarten gerade warm geworden, dann nimmt der Flow nach 20 Metern ein abruptes Ende. Wieder unten angekommen fühlt man sich wie bei der Reise nach Jerusalem, nur ist keine Route frei, die man klettern möchte oder könnte. Da kommt doch eigentlich die Frage auf: Gibt es nicht noch mehr als Sportklettern? Und die klare Antwort ist: ja! Mehrseillängen sind das Stichwort.
Mehrseillängen klettern – was ist das?
Beim Sportklettern wird ohne Hilfsmittel, nur mit Hand und Fuß, Naturfels oder eine Kunstwand erklommen. Die einzelnen Routen sind meist gut abgesichert mit einer Länge von 15 bis 20 Metern, die manchmal auch im Toprope – Sicherung von oben – begangen werden können Dafür benötigt man neben den üblichen Verdächtigen keine außergewöhnliche Ausrüstung. Es steht auch eher der sportliche Aspekt im Vordergrund und in einem Klettergarten finden sich meist viele Routen, die man nacheinander abklappern kann.
Das Klettern von klassischen Mehrseillängen dagegen bedeutet, plötzlich hundert Meter Abgrund unter sich zu haben und nochmal genauso viel Strecke über sich bewältigen zu müssen. Man hängt mitten in einer Wand, die kleiner oder größer sein kann. Das bedeutet, dass sich beim Mehrseillängenklettern der Fokus auf längere Routen verschiebt, die in mehrere Abschnitte, sprich Seillängen, unterteilt werden. Man befindet sich nicht mehr in einem überschaubaren Klettergarten, sondern versucht, einen ausgewählten Gipfel zu erklimmen oder eine besondere Felswand zu durchsteigen.
Vero und Alex Wöckner
Neben einer anspruchsvollen Seiltechnik, die man beherrschen muss, gibt es noch andere Aspekte, die die Mehrseillänge vom Sportklettern abhebt. Denn beim Alpinklettern spielt das Wetter, insbesondere dessen Stabilität, und auch die Tatsache, dass man teilweise einfach abgeschieden von der Welt unterwegs ist, eine wichtige Rolle. Einerseits ist das eine wundervolle Erfahrung, andererseits aber auch eine Herausforderung, wenn es mal nicht so glatt läuft.
Alpinklettern: Auf die Planung kommt es an
Alpinklettern ist ein großgefasster Begriff. Die unter „alpin“ fallenden Routen können entlang eines ausgesetzten Grats entlangführen oder einen spektakulären Gipfel zum Ziel haben. Man bewegt sich, wie der Name schon sagt, somit im alpinen Gelände. Das heißt nicht sofort, dass man wie anno Tobak unterwegs ist. Die Routen können durchaus mit Bohrhaken abgesichert sein oder auch technisch erklettert werden.
Zusätzlich zur hierfür notwendigen Ausdauer werden beim Alpinklettern vor allem eine gute Planung, Wetter- und Geländekunde sowie bergsteigerisches Können vorausgesetzt. Der Abstieg ins Tal kann mitunter ebenfalls herausfordernd sein, denn beim Ausstieg findet man zum Beispiel nur Gebüsch, muss an einem luftigen Abgrund entlang robben und sich den Weg im Steilschrofengelände selber suchen. Das ist zwar nicht die Regel, aber bei weitem auch keine Ausnahme! Abseilen ist daher manchmal einfach die bessere Option, doch auch da sollte man Augen und Ohren offenhalten.
Vero und Alex Wöckner
Vero und Alex Wöckner
Packliste: Was benötige ich zum Klettern einer Mehrseillängentour?
1. Ausrüstung fürs Mehrseillängen klettern
Beim Mehrseillängen klettern braucht es etwas mehr Material als beim Sportklettern. Hier findet mit der Zeit auch jeder seine Wohlfühlmenge an Geraffel, das am Klettergurt baumelt. Die einen zählen die Expressen nach Bohrhaken in der Route ab, während die anderen neben Opferkarabinern und zusätzlichen Schlingen den gesamten Ausrüstungsbestand mit sich schleppen. Da gilt es, die goldene Mitte zu finden. Denn zu wenig Material kann zu riskanten Nothandlungen führen, während zu viel Material und damit Gewicht beim Klettern die Kletternden schnell an ihre körperlichen Grenzen bringen kann.
Je nach Tourencharakter variiert somit die Ausrüstungsliste, wobei bis auf das Seil und Expressen Folgendes immer und zwar jeweils pro Person (!) dabei ist:
- Klettergurt
- Kletterhelm
- Kletterschuhe
- Sicherungs- und Abseilgerät
- ATC-Guide / Reverso (Doppellauf-Tuber-Sicherungsgerät mit großer Öse zum Einhängen am Standplatz und auch zum Abseilen vorteilhaft)
- Expresssets
- Bandschlingen (kurz, mittel und lang)
- HMS-Karabiner und Schraubkarabiner (am besten 3 Stück)
- Selbstsicherung
- Reepschnur für u.a. Prusik
- Schnappkarabiner (zum Beispiel für Material am Gurt)
- Erste-Hilfe-Set inkl. Biwaksack
- Topokarte (am besten auch in Papierform, falls das Handy den Geist aufgibt)
- Mobiltelefon
- Stirnlampe
- Getränk & Verpflegung
- Kletterseil
- Einfachseil (beim Klettern von Sportklettern-ähnlichen Routen)
- Halbseile (Alpines Klettern, für Zweier- und Dreierseilschaften)
- Zwillingsseil (Alpines Klettern, für Zweierseilschaften)
Sofern man sich nicht sicher ist, wie gut eine Route abgesichert ist, braucht es zur Standardausrüstung noch Klemmgeräte & Co. Doch vor allem am Anfang Deiner Mehrseillängen-Karriere solltest Du diese Art von Routen und vor allem die mobile Sicherung lieber nur mit einer erfahrenen Person in Angriff nehmen.
Vero Wöckner
2. Kletterpartner (Stichwort: Seilschaft)
Während man beim Sportklettern mit automatischen Sicherungsgeräten in der Halle sogar alleine klettern kann, so braucht es beim Mehrseillängenklettern einen Partner. Die richtige Chemie in einer Seilschaft ist hierbei das A und O, denn man muss sich blind vertrauen. Vor allem, wenn man sich weder sieht noch hört.
Vero und Alex Wöckner
Zweierseilschaft
Ähnlich wie beim Sportklettern gibt es in jeder Seillänge einen Vorsteiger und einen nachsteigenden Kletterer. Hierbei können sich beide im Vorstieg abwechseln, also überschlagend klettern, oder die Route wird von einer Person vorgestiegen. Bei einer Wechselführung ist es je nach Gemütlichkeit am Standplatz jedoch etwas umständlicher, da das beim Nachsichern aufgenommene Seil übergeben werden muss. Beim permanenten Führungsstil kommt man schneller voran, da der Nachsteiger so gut wie nahtlos weiter klettern kann. Je nach Sicherungstechnik muss man nur die Sicherung des Vorsteigers anpassen.
Vero und Alex Wöckner
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Dreierseilschaft
Möchte man zu Dritt klettern, kommt man um eine Benutzung von Halbseilen nicht herum. Man klettert auch ausschließlich im so genannten permanenten Führungsstil, da man sich mitten in der Wand nicht aus dem Seil ausbinden sollte. Der auserwählte Vorsteiger bindet sich in beide Halbseile ein, während je ein Nachsteiger am Ende eines Halbseiles eingebunden ist. Die Sicherung des Vorsteigers erfolgt durch einen der beiden Nachsteiger, die immerhin einen netten Plausch halten können, während der oder die erste die Wand hochschnauft. Im Nachstieg wird dann etwas zeitversetzt gleichzeitig geklettert und von oben gesichert.
Mehrseillängen klettern lernen
Zum Klettern von Mehrseillängen sollte man schon einigermaßen am Fels zuwege und in der notwendigen Seiltechnik sattelfest sein. Als Faustregel ist die ausgewählte Mehrseillänge im Schwierigkeitsgrad meist zwei Grade geringer als die Schwierigkeit, die man beim Sportklettern erreicht. Wenn man zum Beispiel nur im Nachstieg unterwegs ist, kann man nach eigenem Ermessen auch etwas schwieriger klettern.
Doch ist die richtige Selbsteinschätzung der Schlüssel zum Erfolg. Nur weil man im Nachstieg unterwegs ist, heißt das nicht, dass man über den Berg ist. Denn kommt der Nachsteiger nicht weiter, so hängt die ganze Seilschaft in der Wand. Daher sollten Neulinge zum Erlernen des Kletterns von Mehrseillängen unbedingt einen Kurs besuchen oder von einem erfahrenen Ausbilder lernen. Anfänger können danach im heimischen Sportklettergarten üben. Denn wer hat gesagt, dass man am Ende der Route nicht zu zweit vom Standplatz aus die Aussicht ins Tal genießen kann!
Tipp zum Weiterlesen: Mehrseillängen klettern – so funktioniert’s
In diesem weiterführenden Beitrag zum Mehrseillängen klettern erfährst Du alles zu Standplatzbau, Seilkommandos und Klettertechnik.