Je höher desto besser! Dies ist eine Einstellung, die sicherlich schon jeder von Freunden oder anderen Hobbybergsportlern gehört hat. Gerade unter „Sensation Seekers“ ist diese Haltung häufig zu finden. Es gibt eben viele, die mit steigender Gipfelhöhe auch ein Ansteigen der alpinistischen Herausforderung und Spannung assoziieren. Im Extremen lässt sich dieses Phänomen im Himalaya beobachten. Doch auch in den Alpen ist es bei Hochtouren eher die Regel als die Ausnahme.
Vorgedanken zum Gran Paradiso
Ich bin kein Freund dieser Haltung. Im Gegenteil – ich bin der Meinung, dass sich eine schöne Tour völlig unabhängig von der Höhe umsetzen lässt. Es kommt auf eine eigenständige Planung, auf die persönliche Herausforderung, die Schönheit der umgebenden Natur und ganz besonders auf den Spaßfaktor an. Was kann schöner sein, als eine intensive Zeit mit ein bis zwei Freunden zu verbringen?
Mit diesen Hintergedanken sollte es diesen Sommer mal ein Viertausender fürs Tourenbuch sein. Doch was für einen Berg wählt man da aus?! Natürlich kamen mir und meinem Seilschaftspartner gleich tolle Gipfelziele wie der Mont Blanc oder gar der Piz Bernina über den Biancograt in den Sinn. Allerdings erschienen uns diese Ziele doch als etwas zu hochgegriffen. Schließlich sollte es unser allererster Gipfel über der 4000-Meter-Marke sein!
Privat
Die Wahl fiel letzten Endes auf den Gran Paradiso. Der Berg gilt als einer der einfacheren Viertausender im Alpenraum, die technischen Schwierigkeiten halten sich in Grenzen. Angenehm am Gran Paradiso ist zudem, dass man keine teuren Seilbahnzufahrten oder mehrtägige mühselige Zustiege auf sich nehmen muss, sondern diese Tour auch relativ gut für ein verlängertes Wochenende planen kann.
Der Gran Paradiso kann mit gutem Gewissen als italienische Majestät bezeichnet werden. Denn der vergletscherte Viertausender ist mit 4061 Meter über Normalnull der höchste Berg Italiens, der im kompletten Umfang auf italienischem Staatsgebiet steht. Weiterhin wurde um den Gran Paradiso ein Nationalpark errichtet, der aus einem königlichen Jagdreservat hervorging und heute dem Schutz des Alpensteinbocks gilt. Der „Parco Nazionale Gran Paradiso“ ist der zweitälteste Nationalpark der Alpen.
Anfahrt und Aufstieg zur „italienischen Majestät“
Endlich geht es mit der Besteigung an einem Freitagmorgen um 8:30 Uhr los. Wir hatten gehofft am frühen Nachmittag in Pont, dem Talort, anzugelangen. Allerdings wird diese Hoffnung schnell zunichte gemacht, da wir einfach ewig im Stau stehen… Erst um 22:30 Uhr kommen wir endlich am Parkplatz im Talschluss an. Trotz der strapaziösen Anreise ist die schlechte Laune wie verflogen und wir machen uns schnell fertig für den Aufstieg. Der Hüttenzustieg gestaltet sich einfach – keine Gletscherberührung und zum Glück auch nachts problemlos zu machen!
Nach etwa fünfzehn Minuten kommen wir an einem ersten Stützpunkt, dem Rifugio Tetras Lyre, vorbei. Ein uriger Steinbau, der einige gehfaule Tagestouristen anzieht. Direkt dahinter führt der Weg gut ausgebaut die Ostseite des Tales empor. Dort wird der Wald wieder dichter und man hat immer wieder schöne Blicke auf die kleinen, rauschenden Wasserfälle des Sturzbaches Savara. Insbesondere bei unserem mondbeschienenen Zustieg (wohlgemerkt, es ist 23 Uhr!) ist dieses Rauschen eine willkommene Abwechslung zur sonst etwas eigenartigen Stille.
Futuristisches Rifugio Vittorio Emanuele
Auf einer Höhe von 2450 Metern wird das Gelände wieder flacher. Hier zieht sich auch der Wald vollkommen zurück. Der Mondschein gibt uns genügend Licht, um nicht Angst haben zu müssen, auf dem nun recht steinigen Pfad umzuknicken.
Nach etwa zwei Stunden Aufstieg taucht schließlich wie aus dem Nichts unser Tagesziel hinter einem kleinen Aufschwung auf. Das Rifugio Vittorio Emanuele II sieht bei nächtlichem Mondschein zwar futuristisch aus, wurde aber bereits inden 1950er-Jahren errichtet. Wir haben trotzdem das Gefühl, als seien wir plötzlich auf dem Mars gelandet! Einzig der Blick auf die etwas unbedeutenderen Gipfel der Tresenta (3609m) und der Becca di Moncorve (3875m) erinnern uns daran, dass es nicht um das Auffinden des verlorenen Kameraden Mark Watney im Kinofilm „Der Marsianer“ geht, sondern um eine Hochtour auf unseren ersten Viertausender! Schnell noch ein paar Bilder der Mondlandschaft gemacht, und schon stolpern wir um 1 Uhr nachts endlich über die Schwelle unserer Hütte. Siehe da: wir haben Glück, dass der Hüttenwirt gerade noch wach ist, um uns unsere Schlafplätze im Lager zuzuteilen.
Der Gipfeltag
Früh um 03:50 schrillt der Wecker. Da der Gran Paradiso insgesamt als einfache Hochtour (F+) bewertet wird, allerdings kurz unterm Gipfel eine schmale, sehr ausgesetzte Stelle auf uns wartet, wollen wir beim Aufbruch unbedingt die Ersten sein. Somit wollen wir dem Stau, der häufig an der Gipfel-Schlüsselstelle (UIAA II+) entsteht, entgehen. Überrascht müssen wir feststellen, dass wir nicht die Ersten sind. Daher legen wir noch einen Zahn zu und hetzen um 04:10 Uhr als erstes Duo hinaus in die Nacht. Hier rentiert sich eine gute Stirnlampe!
Privat
Trotz der enormen Leuchtkraft meiner Led Lenser H7R.2 verpassen wir leider den Weg, der in einem Rechtsbogen auf den Gletscher zugelaufen wäre. Stattdessen enden wir auf einer Direttissima, die uns über große Steinblöcke und Moränengelände führt. Nicht weiter schlimm, aber es kostet natürlich wertvolle Kraft! Nach einiger Zeit wird das Gelände flacher und die auslaufende Schulter des Becca di Moncorve, die wir links umgehen, gibt den Blick auf den Gletscher frei.
Am Anseilplatz kurz vor dem Gletscher laufen die hinteren Seilschaften wieder auf. Um Steigeisen, Gurt und Seil anzulegen, vergeht ein wenig Zeit. Gleichzeitig mit einem französischen Bergführer und seinen zwei Schützlingen geht es auf den Gletscher, der sich zunächst von seiner unangenehmeren Seite zeigt. Denn der erste Abschnitt ist etwa 36 Grad steil. Der Blick zurück zeigt den Anblick einiger Stirnlampen, die sich am Anseilplatz organisieren. Immer wieder ein schöner Anblick! Im ersten Teil des Gletscheranstiegs halten wir uns rechts an der erwähnten Schulter entlang, um den ersten Gletscherbruch zu umgehen. Nach etwa zwei Stunden Gehzeit sind wir weiterhin die vorderste Seilschaft. Die Nacht weicht der aufsteigenden Sonne, und ab etwa 3450 Meter können wir im Licht die ersten Blicke auf die Gipfelmadonna hoch über uns werfen.
Großartige Gipfelschau am Normalweg
Weiterhin rechts haltend stehen wir nach kurzer Zeit auf dem sogenannten „Eselsrücken“. Hier vereint sich der Anstieg vom Rifugio Chabod mit unserem Normalweg. Darüber hinaus hat man hier einen tollen Rundumblick mit dem Mont Blanc-Massiv im Norden und zahllosen Dreitausendern im Westen. Unter anderem ist hier die Aguille de la Grande Sassiere (3747m) zu sehen – der höchste Berg der Alpen, der „wandernd“ – also ohne Gletscher und ohne Kletterei – bestiegen werden kann.
Schließlich wenden wir uns wieder nach Süden und steigen bis auf den Rücken zwischen dem bereits erwähnten Il Roc (4026m) und der Becca di Moncorve. Dort machen wir nach dreieinhalb Stunden Aufstieg eine ausgiebige Pause, die man sich kaum schöner vorstellen kann! Der Blick schweift über die gewaltige Südseite des Mont Blanc – und wir hängen unseren Träumen nach. Warum nicht mal den Mont Blanc über die Cosmiques-Route machen? Als der Wind wieder anzieht, werfen wir schnell unsere Brotzeit in den Rucksack und machen uns auf den Weg, um wieder ein bisschen Wärme zu entwickeln.
Gran Paradiso – Spannung vor dem Gipfel
Schließlich steigen wir Richtung Nordosten dem Gipfelaufbau entgegen. Rechts von uns liegt die stark aufsteilende Flanke des Il Roc. Kurz unter dem Gipfelaufbau des Gran Paradiso müssen wir mittels einer Leiter die ca. drei Meter breite Randkluft überwinden. Kurz dahinter wechseln wir von Firn und Eis auf Eis und Fels. Ganz nach dem Motto: „Besser mit Stahl auf Fels als mit Gummi auf Eis“ behalten wir die Steigeisen an.
Philip Lütgerath
Nach etwa 20-minütiger Kraxelei erreichen wir – zeitgleich mit dem vorhin erwähnten französischen Bergführer – die Schlüsselstelle der ganzen Tour. Der Bergführer muss sich kurz mit seinen beiden Schützlingen organisieren, also gehen wir vor. Nach kurzem Innehalten ist das Seil parat und die Ausrüstung – also Exen und Bandschlingen – zurechtgerückt. Wir richten zunächst eine Sicherung kurz vor der Schlüsselstelle ein, dann gehe ich vor.
Kurz auf den Absatz geschwungen – und schon steht man mit dem Gesicht zur Wand. Mit ein paar hundert Meter Luft unter dem Allerwertesten! Die kurze Querung ist jedoch schnell gemacht. Sie erweist sich als sehr ausgesetzt und schmal, jedoch kurz. Gleichzeitig zeigt es sich als sehr hilfreich, mit einer Hand einen Halbmastwurf in einen hängenden Karabiner einhängen zu können!!
Eine Traumtour geht zu Ende
Oben angekommen, öffnet sich ein überwältigender Blick. Der Nationalpark liegt uns zu Füßen, jenseits des Aostatals grüßen zahlreiche Viertausender. Nach etwa zehn Minuten am Gipfel ist das Chaos unter uns perfekt. Drei Seilschaften, jeweils mit Bergführer und etwa fünf Gipfelaspiranten, tummeln sich auf dem viel zu schmalen Fels vor der Schlüsselstelle. Jeder will rauf, jedoch ist die Schlüsselstelle nur einzeln und unter Seilsicherung zu machen. „Was für ein Glück, dass wir so früh oben waren!“, denken wir beide, während uns beim Rückweg schon der Atem stockt, da kaum jemand Platz machen möchte.
Privat
Zurück geht es auf dem selben Weg wie rauf. Kurz nach Mittag kommen wir, dann doch ziemlich entkräftet, wieder an der Hütte an. Zuerst bestellen wir uns erst einmal ein Mittagessen. Für etwa zwei Stunden lassen wir es uns so richtig gut gehen. Dazu gehört natürlich auch, dass wir in den See direkt vor der Hütte springen. Dieser stellt sich als genauso kalt heraus wie er aussieht! Aber die warme Sonne wärmt uns schnell wieder auf und die Muskeln danken uns die Abkühlung. Gestärkt und ausgeruht ist der restliche Weg zum Parkplatz dann auch kein Problem mehr und wir freuen uns über den Erfolg auf unserem ersten Viertausender!
Eckdaten der Tour
- Vom Brenner über Brixen und Trient nach Verona. Kurz vor Verona nach Westen abbiegen und der Autobahn Richtung Mailand folgen. Nach Mailand bei Santhia auf die E25 nach Aosta abbiegen. Dort weiter Richtung Courmayeur und Chamonix. In Saint Pierre von der E25 abfahren in Richtung Valsavarenche. Diesem Tal folgen, bis man am Ende der Straße auf den Parkplatz in Pont trifft.
- Schwierigkeiten und Charakter: Einfache, schöne Hochtour (F+) mit etwas Kraxelei. Unterm Gipfel sehr ausgesetzte Querung (UIAA II+), die absolute Trittsicherheit, Schwindelfreiheit und alpine Erfahrung erfordert. Darüber hinaus sollte man – auch auf dieser Tour – mit der Spaltengefahr umgehen können!
- Länge der Tour: Von Pont zum Hüttenstützpunkt 775 Meter Höhendifferenz und ca 2:15 Stunden Gehzeit. Von der Hütte auf den Gipfel 1326 Meter Höhendifferenz und ca 5 Stunden Gehzeit.
- Übernachtung: Im Rifugio Vittorio Emanuele II (2735m) oder im Rifugio Chabod (2750m).