Am Fuße des Kirchdachsockels im Pinnistal findet man sozusagen das Lebenswerk von Andi Orgler. Der Alpinist und Hängegleiter-Pilot hinterließ nach seinem tragischen Tod 2007 einige der eindrucksvollsten Linien im Eis der Stubaier Alpen, die teilweise immer noch auf mutige Wiederholer warten. Und die müssen sich die Routen erst einmal verdienen, denn raus aus dem Auto und sofort losklettern spielt es im Pinnistal nicht.
Anderthalb bis zwei Stunden Zustieg entlang der Rodelbahn von Neder (Neustift im Stubai) hinauf zur Pinnisalm müssen zunächst zurückgelegt werden, ehe die Ski oder der Schlitten gegen die Eiskletterausrüstung eingetauscht werden können. Wenn das Wetter, der Lawinenlagebericht und natürlich die Eisverhältnisse stimmen, hat man dann an der Pinnisalm die Qual der Wahl.
Franz Mösbauer
Männer ohne Nerven im Pinnistal
Das Eiskletter-Eldorado erstreckt sich am Talschluss des Pinnistales auf der östlichen Seite als ein riesiger Felsriegel. Im Sommer steht man auf saftig grünen Almwiesen und kann etliche Wasserfälle rauschen hören. Im Winter jedoch verwandelt sich die Landschaft in eine Traumlandschaft aus Schnee und Eis, die jedes Eiskletterherz höher schlagen lässt. Wie aber soll man angesichts dieser gigantischen Auswahl einen Anfang finden oder einen Einstieg in die Eiskletterwelt im Tal?
Franz Mösbauer
Von der Alm kommend macht es am meisten Sinn, sich an den Eisfällen und Routen von links nach rechts zu orientieren: Eisballett (WI 5/5+, 110 Meter) und Der kleine Prinz (WI 6, 40 Meter) sind die ersten, wirklichen Eiskletterrouten. Falls sie sich bilden, gibt es einige schöne Meter aus filigranen Eisstrukturen. Leider habe ich diese Linien bislang erst einmal kletterbar angetroffen.
Der Besinnungsweg (M 8/WI 6, 45 Meter) ist eine der wenigen, neuen Touren und folgt dem markanten Riss rechts vom kleinen Prinzen. Ziemlich steile Mixedkletterei aus dem Jahr 1991, bietet die Linie Land am Strome (M7/WI7, 55 Meter).
Franz Mösbauer
Franz Mösbauer
Die Männer ohne Nerven (WI 5/5+, 140 Meter) reißen bei guten Verhältnissen die Statistik der Begehungszahlen des gesamten Riegels nach oben. Die Linie ist eine der frequentiertesten Touren im Pinnistal. Das ist auch kein Wunder, denn insbesondere mit dem direkten Einstieg (WI 6) klettert man eine geniale Tour, die steil und mächtig aus dem Talgrund herausragt.
Die Tour ist bei gutem Eis super zu klettern und oft mit zahlreichen Hooks garniert. In der ersten Saisonhälfte kann die Tour bei noch röhrigem Eis deutlich anspruchsvoller werden. Dies gilt aber auch für die meisten Touren hier. Neues, modernes Mixed-Klettern mit Bohrhaken bietet hingegen die Tour Männer im Rücken (M 8/WI 5, 80 Meter) und Land der Hämmer (M 8/ 80 Meter).
Die nächsten Klassiker im Pinnistal: Gully bis Eiszeit
Für die nächste Tour muss man ein paar Meter weiter gehen. Der Gully (WI 6, 125 Meter) versteckt sich in einer dunklen Schlucht. Wer sich hinein traut, wird mit einem besonderen Ambiente belohnt, denn markanter geht es kaum. Wieder ein Stückchen weiter den Riegel entlang findet sich die markante Linie Vorhang (WI 4+/5-, 85 Meter). Kaum zu übersehen und oft super eingepickelt – aber auch oft unterschätzt, denn manchmal kann der Eisaufbau anspruchsvoll sein.
In etwa der gleichen Liga spielt die Eiszeit (WI 5, 100 Meter). Nach dem ersten, meist kompakten Teil wird oben über eine schöne Säule ausgestiegen. Aber Achtung: das erste, flache Eisschild kann teils dünn oder unterspült sein!
Franz Mösbauer
Links der Eiszeit existiert selten die imposante Säule Giftzahn (WI6/6+, 50 Meter), die sich sehr selten kletterbar formt und ihrem Besteiger einiges an Können und Ausdauer abverlangt.
Das frostige Amphitheater der Stubaier Alpen
Rechts der Eiszeit steht das beeindruckende Amphitheater. Leider bilden sich in diesem Bereich selten Linien kletterbar aus. Mit den Touren Himmelsleiter (M 7/WI 7-, 90 Meter), Metamorphose (WI 7, 100 Meter), Magier (M 7-/WI 5, 80 Meter) und Komet (WI 6/M 8, 80 Meter) hat Andi Orgler wirklich beeindruckende Erstbegehungen hinterlassen. Wiederholungen dieser Touren sind auch heute noch rar. Aber dennoch gesellen sich vergleichbar anspruchsvolle Neutouren, wie etwa der Eremit (M 9-/ WI 7, 100 Meter) links der Himmelsleiter auch in jüngster Vergangenheit hinzu.
Mit vermutlich leicht geändertem Wasserfluss bilden sich dafür in den letzten Jahren im Bereich des Magiers neue Eislinien, die dann auch häufiger beklettert wurden. Insbesondere beim Eisanstieg Magier (WI 5/5+, 80 Meter) und im Schweizerweg (WI 5/5+, 80 Meter) bekommt man das Amphitheater-Feeling.
Der Sektor Kerze
Schaut man um die Ecke, baut sich vor den Frontalzacken die Kerze (WI 6, 70 Meter) auf – steil, schön und anmutig aber auch extrem pumpig! Das nötige Feuerzeug (WI 6/M 5/A 0, 45 Meter) findet man links der Kerze.
Franz Mösbauer
Franz Mösbauer
Die lohnende Rumpelkammer (WI 5, 60 Meter) rechts der Kerze zieht anfänglich durch eine Schlucht hinauf. Etwas weiter und versteckt um die Ecke kann man in Klein aber Fein (WI 5+, 60 Meter) am Nachmittag sogar noch in den Genuss von sonnigem Eis kommen.
Franz Mösbauer
Insbesondere Christian Piccolruaz versorgt den Kirchdachsockel immer wieder mit neuen Kreationen, wie hier im Sektor Kerze mit Lasur d’amour (M 6+/WI 5, 95 Meter), den Iceman (M 8/WI 5, 100 Meter) oder die bereits oben erwähnten Neutouren.
Im oberen Stockwerk
Eher selten geklettert wird im oberen Stockwerk, das man über die Ausstiege einer der vorangehenden Routen oder zu Fuß in einem Rechtsbogen erreichen kann. Oft ist das Eis aufgrund der exponierteren Lage ganz schön spröde und unangenehm zu klettern.
Wer dort oben dennoch sein Abenteuer sucht, der findet links und in der Mitte die Gardine (WI 5, 140 Meter) und das Chamäleon (WI 4+, 50 Meter). Beides sind in der Regel schöne, kompakte Eisschilder.
Franz Mösbauer
Weiter rechts davon befindet sich noch der Familiensonntag (WI 4, 150 Meter), ein optimales Ausflugsziel für eine sportliche Familie, die schönes, kompaktes Eis in ruhiger Lage sucht. Insbesondere in Kombination mit der Rumpelkammer ergibt sich eine tolle, lange Tour.
Bevor der letzte Akt des Tages beginnt, kann man sich entweder in der Pinnisalm mit einem Schnapserl aufwärmen oder im März nach dem Klettern die Sonne auf der Terrasse genießen. Doch zu tief sollte man nicht ins Glas schauen, da der Rückweg auf den Skiern oder dem Schlitten weiter unten oft schnell und eisig ist und nicht selten in der Bande endet.
Frank Grauer
Tom Lipp
Fazit zum Eiskletter-Revier Pinnistal
Eisklettern im Pinnistal war und ist immer etwas Besonderes, denn obwohl der Kirchdachsockel nicht gerade in Talnähe ist, bleibt das Ambiente meistens freundlich. Während zu Beginn der Eissaison der Eisaufbau häufig filigran und röhrig sein kann, kann man sich oft im März noch über massives Eis freuen.
Übrigens, die beiden Tiroler Guido und Hechei haben versucht, die meisten Touren an einem Tag zu klettern. Über diese Frozen Rally der beiden gibt es ein tolles Video und natürlich auch schöne Aufnahmen aus dem Pinnistal.
Nicht unterschätzt werden darf im Pinnistal die Gefahr von Lawinen und Spindrifts. Oft bilden sich diese oberhalb der Fälle in den Wänden und Rinnen, um anschließend über den ein oder anderen Fall abzugehen. Darum sucht bei oder nach starkem Schneefall besser andere Gebiete auf!
Im Frühjahr hingegen gefährden Nassschneerutschen aus den Felswänden des Kirchdachs die Fälle, wenn ab etwa Mittag die Sonne um die Ecke kommt.
Eisklettern im Pinnistal
Der Kirchdachsockel im Pinnistal bietet mit etwa 20 Eisfällen eine ganze Fülle beeindruckender Touren in alpinem Ambiente. Alle Touren erfordern mindestens den den soliden vierten, besser fünften Eisgrad und sind nur erfahrenen Eiskletterern zu empfehlen.
- Anreise / Parken / Zugang: Brenner von Innsbruck, Abzweigung Stubaital und weiter bis etwa einen Kilometer vor Neustift im Stubai. Im Ortsteil Kampl nach links in Richtung Neder abzweigen. In Neder (1.017 Meter) parkt man am besten in Ortsmitte im Bereich der Brücke und folgt der Forststraße ins Tal hinein bis zur Pinnisalm (1.560 Meter), die man nach etwa zwei Stunden erreicht.
- Tipp: Für den Zustieg bieten sich Ski oder ein Rodel an. Beide versüßen den Abstieg enorm!
- Seilbahn-Alternative: Alternativ kann man ab Neustift die Seilbahn zum Elfer hoch fahren und mit dem Rodel zur Issenangeralm rodeln. Ab hier noch etwa eine Stunde Gehzeit bis zur Pinnisalm.
- Beste Zeit: Januar, Februar, März
- Ausrüstung: Je nach Tour Schrauben und 60 Meter Halbseile, ggf. Keile und Friends. Tourenski oder Rodel für den Zu- und Abstieg. Hier geht’s zur Packliste Eisklettern.
- Führer / Information: Im Eiskletterführer Tirol vom Alpinverlag, sowie auf bergsteigen.com und www.piccolruaz.at findet man alle Infos. Lesenswert ist zudem der leider vergriffene Panico-Führer Stubaier Alpen von Andi Orgler, sowie das Kapitel „Der Flug der Zeit“ von ihm im Buch „Wo die wilden Hunde wohnen“ (Tyrolia-Verlag).
- Anmerkung des Autors: Dieser Bericht ersetzt keinen Führer, sondern soll einen groben Überblick über die Möglichkeiten bei der Pinnisalm geben.
Franz Mösbauer
Um die Ecke gedacht: Eisklettern im Stubaital
Bereits beim Zustieg zur Pinnisalm sticht nach einer halben Stunde links der lange Kesselfall (WI 4, 355 Meter) ins Auge. Direkt im Stubaital gibt es viele weitere Möglichkeiten, wobei insbesondere die zahlreichen Touren im Grawa-Eisgarten zu erwähnen sind.